Es ist großartig – seit dem 22. April steht ein Kunstwerk von Markus Lüpertz auf dem sogenannten »Mistehof« vor dem Café in Lucklum. Vier tierische Gestalten, Esel, Hund, Katze und Hahn, bekannt aus dem Märchen “Bremer Stadtmusikanten” der Gebrüder Grimm, begrüßen die Besucher des Rittergutes Lucklum. Die über vier Meter große, gut zwei Tonnen schwere Bronzeskulptur aus dem Jahr 2018 wurde letzte Woche von Florian Rehm, Eigentümer des Ritterguts, in Anwesenheit des Künstlers Markus Lüpertz feierlich eingeweiht.

Lüpertz ist einer der renommiertesten, exponiertesten und gleichzeitig umstrittensten Maler und Bildhauer Deutschlands. Schöpferisch bringt er Mythen der Antike, große Philosophen, Helden und Genies der Vergangenheit in die Gegenwart, aber eben auch Märchen – und zeigt seine Arbeit weltweit in großen Städten und Ausstellungen.

Das Märchen: Kampf von Gut gegen Böse

Inhaltliche Grundlage der Skulptur ist das erstmals 1819 veröffentlichte Volksmärchen “Bremer Stadtmusikanten”. Die vier Hoftiere, die ihren Besitzern vor allem aufgrund ihres Alters nicht mehr nützlich sind, sollen geschlachtet beziehungsweise abgeschafft werden. Der Esel flieht. Ihm schließen sich die anderen Tiere mit dem Ziel an, Stadtmusikanten in Bremen zu werden. In der Nacht entdecken sie ein hell erleuchtetes Räuberhaus mit einem schön gedeckten Tisch. Mittels einer Tierpyramide und lautem Geschrei vertreiben sie die Räuber und lassen sich auch dort nicht mehr verjagen. In Bremen sind die vier Gesellen nie angekommen, da sie mit dem Räuberhaus den Ort ihres gemeinsamen Glücks gefunden haben.

Das Märchen erzählt mit seinen existenziellen Themen eine nahezu zeitlose Geschichte: Der Kampf der Unterlegenen gegen die Starken, Gut gegen Böse, der Mut sich gegen ein Schicksal, gegen die Herrschaft aufzulehnen, sich für eine schier unmögliche Vision der Stadtmusikanten auf den Weg zu machen, als solidarisches Team mit einer unkonventionellen Idee gemeinsam einen Sieg zu erzielen. Es ist auch eine Geschichte von Freiheit, Würde und Selbstbestimmung – wichtige Themen auch für einen Künstler wie Markus Lüpertz –  einem mit viel Selbstbewusstsein ausgestattetem Freigeist.

“Bremer Stadtmusikanten” und Lucklum
Wie kommen die “Bremer Stadtmusikanten” nach Lucklum? Bei einem Besuch in der Gießerei Schmäke in Düsseldorf, die im Zusammenhang mit der Skulptur “Wilhelm Busch” von Markus Lüpertz für Wolfenbüttel stand, entdeckte Florian Rehm, Eigentümer des Ritterguts Lucklum, die Tierskulptur. Sofort war er gefesselt. Sie erinnerte ihn an seine Kindheit und zudem stammt diese Skulptur aus den Händen “eines des größten lebenden Künstlers unserer Zeit” – so Florian Rehm. Auf dem “Mistehof” des Ritterguts, das 1861 von dem großen Bremer Unternehmer Johann Heinrich Frerichs, erworben wurde, hat die Skulptur ihren idealen Standort gefunden. Sie nimmt die spätere Instandsetzung von Hof und Gebäuden und damit Nutzung und Sichtachsen vorweg. Die Skulptur wirkt auf die Umgebung ein – so wie die Gebäude selbst in einen sichtbaren Dialog mit dem Werk eintreten. Dieser Standort schenkt der Skulptur einen Zustand des Schwebens. Was war hier, wer war hier, wer wird hier sein, wie wird es sein, wer sind wir?

Der Misthof wird zur Bühne der Kunst. Nach dem Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm von 1885 ist ein Misthof eine „besondere stätte in einem bäuerlichen gute zur ablagerung des düngers“. Schön die Vorstellung: Kunst ist Dünger!

Der Künstler und die Skulptur
Markus Lüpertz hat die Szene der Tierpyramide skulptural gefasst. Sie stellt den fruchtbaren Moment, den Wendepunkt der Geschichte, dar und ist seit 1823 in unzähligen Illustrationen aufgegriffen worden. Für die Stadt Bremen ist dieses Motiv nicht zuletzt durch die 1953 geschaffene zwei Meter hohe und 1,38 Meter lange Bronzeskulptur von Gerhard Marcks, die zunächst höchst umstritten war, zu seinem Markenzeichen, zu seiner Identifikationsfigur geworden – auch wenn das Tierquartett Bremen nie erreicht hat. Verbunden mit einem Glücksritual, das zu glänzenden Eselfüßen und Maul führt, zieht die Skulptur unzählige Touristen an.

Fröhlich – und vergänglich zugleich
Lüpertz greift das vertraute Motiv auf und steigert es in eine andere Dimension. Das Außergewöhnliche sprengt die Erwartung. Statt einer leicht stilisierten, kantigen Formensprache wie bei Gerhard Marcks, wählt er eine schrundige, bewegte, haptische Oberfläche, die Licht und Schatten reflektiert. Lüpertz, der Grenzgänger, ein Pendler zwischen den Welten ist dabei ganz konventionell ein Kunstmacher – ein Maler, der mit Pinsel, Farbe und Leinwand arbeitet. Oder als Bildhauer mit Gips und Bronze. Die schaffenden Hände sind nachvollziehbar. Die Bronzeskulptur wird im letzten Akt farbig gefasst. Bei den „Bremer Stadtmusikanten“ kommt sie überraschenderweise sehr umfänglich und regelrecht fröhlich daher. Die Farbe nimmt die plastischen Qualitäten, die Materialität zurück. Das ewige Material Bronze erhält ein vergängliches Kleid, die Farbe wird mit der Zeit weniger und weniger. Ein doppeltes Spiel der Verfremdung und Auflösung.

Liegt die Kunst im Auge des Betrachters? Markus Lüpertz formuliert pointiert und lässig zugleich: “Die Vorstellungen des Künstlers vermitteln sich über sein Werk. Der Betrachter hat eine Vorstellung, eine Erwartung. Und es ist die Frage wie sich diese zueinander verhalten und ob sich diese aufeinander zubewegen oder auch nicht.”

Über den Künstler
Markus Lüpertz wurde am 25. April 1941 in Liberec, Böhmen, geboren. 1948 flieht Lüpertz mit der gesamten Familie nach Rheydt ins Rheinland. In den Jahren 1956–1961 folgt ein Studium an der Werkkunstschule Krefeld, begleitet von Studienaufenthalten im nahegelegenem Kloster Maria Laach und an der Kunstakademie Düsseldorf. 1962 folgt die Übersiedlung nach Berlin, wo er mehrere Jahre lebt. 1970 erhält der junge Lüpertz den Preis der Villa Romana, der mit einjährigem Aufenthalt in Florenz verbunden ist. 1974 nimmt Markus Lüpertz eine Gastdozentur an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe an, die 1976–1987 in eine Professur an derselben übergeht. 1982 wird der Bildhauer und Maler zu Teilnahme an der documenta 7 in Kassel eingeladen. 1983 folgt eine weitere Professur, diesmal an der Sommerakademie in Salzburg. Akademischer Höhepunkt ist die Berufung zur Professur an der Staatlichen Kunstakademie im Jahr 1986 in Düsseldorf, der er von 1988–2009 als Rektor vorsteht. Markus Lüpertz lebt und arbeitet in Berlin, Mönchengladbach-Rheydt und Karlsruhe.

Foto: Rittergut Lucklum